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Angewandtes Model-Based Systems Engineering

Angewandtes Model-Based Systems Engineering

Model-Based Systems Engineering wird oft zusammen mit „Digital Engineering“ als Trendbegriff in der Entwicklung komplexer Systeme genannt. Doch was bedeutet MBSE konkret in der täglichen Praxis des Systems Engineerings?

Aus unserer Sicht lässt sich klar beobachten, dass sich Systems Engineering in den letzten Jahren etabliert hat und der modellbasierte Ansatz zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wir – als Entwicklungsdienstleister – sehen bei großen Konzernen mit komplexen Produkten einen deutlichen Trend weg von dokumentenzentrierten Prozessen hin zu modellbasiertem Arbeiten. Insbesondere im Anforderungsmanagement und der Konzeptphase ist dieser Übergang ein entscheidender Schritt. Vollständig durchgängige modellbasierte Produktentwicklungen sind zwar noch die Ausnahme und bislang vor allem in Vorreiterbranchen wie Luft- und Raumfahrt, Medizintechnik oder Automobilindustrie zu finden. Dennoch steigt das Interesse auch im breiteren Mittelstand merklich.

Der Hauptgrund, warum Unternehmen auf MBSE umstellen, ist die Effizienz. Entwicklerteams stehen unter Druck, immer komplexere Produkte in kürzerer Zeit zu realisieren. MBSE bietet hier einen Weg, diese Komplexität in beherrschbare Einheiten aufzuteilen. Mit einem zentralen Systemmodell lassen sich Projekte auch mit kleineren, verteilten Teams effektiv steuern. Alle arbeiten am selben digitalen Modell, was parallele Entwicklungen ermöglicht und redundante Arbeit reduziert. Dadurch können Produkte schneller auf den Markt gebracht werden, ohne die Qualität zu gefährden, weil das Team einen gemeinsamen Fokus hat und jederzeit den Überblick behält.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Fehlervermeidung durch frühzeitige Validierung. Zwar bedeutet MBSE zunächst einen höheren Aufwand, besonders zu Projektbeginn, doch die Investition zahlt sich langfristig aus. Wenn mehr Energie und Ressourcen in die Konzeptphase gesteckt werden, lassen sich Probleme im Design früh erkennen und korrigieren und Fehler, die man früh behebt, kosten bekanntlich erheblich weniger als solche, die erst spät in der Entwicklung auffallen. So betrachtet ist der höhere Initialaufwand gut investiert, da er teure Fehlentwicklungen und Verzögerungen später verhindert.

In der Praxis zeigt sich bereits deutlich, dass der modellbasierte Ansatz die Modularisierung von Systemen fördert. Komponenten und Funktionen können im Modell klar strukturiert und wiederverwendbar abgebildet werden … präziser als es früher mit rein dokumentenzentrierten Methoden möglich war. Zwar wurde auch früher mit Modulbaukästen gearbeitet, doch MBSE bringt hier eine neue Stringenz und Durchgängigkeit. Das große Plus ist die gemeinsame „Sprache“, die durch ein zentrales Systemmodell entsteht. Alle Beteiligten – von Mechanik über Elektronik bis Software und Requirements Management – arbeiten am gleichen Modell und verstehen dadurch einander besser. Unterschiedliche Sichten auf dasselbe Modell ermöglichen es zudem, komplexe Produkte auf verschiedenen Abstraktionsstufen zu begreifen: Fachfremde Stakeholder können eine vereinfachte Ansicht nutzen, um das Gesamtsystem zu verstehen, während Experten tief in die Details einzelner Komponenten eintauchen. Diese gemeinsame Grundlage erleichtert die bereichsübergreifende Zusammenarbeit enorm und verhindert Missverständnisse zwischen Teams.

„Der große Vorteil von MBSE ist, dass alle Beteiligten, ob Elektroingenieure, Softwareentwickler oder Requirements Manager, mit demselben Modell arbeiten und eine gemeinsame ‚Sprache‘ sprechen.“

Dieses Zitat aus einem unserer Interviews bringt es auf den Punkt: MBSE schafft ein einheitliches Verständnis und verbessert dadurch die Abstimmung im gesamten Entwicklungsteam.

Entwicklungsprozesse im Wandel: Vom V-Modell zur Agilität

Klassische Entwicklungsmodelle wie das V-Modell bleiben weiterhin relevant, doch MBSE verändert ihre Anwendung spürbar. Indem alle Disziplinen enger vernetzt im Modell arbeiten, verschmelzen Design und Integration zusehends. In der Vergangenheit waren Entwicklungsphasen oft streng sequentiell. Erst wurde umfangreich entwickelt, dann separat verifiziert und validiert. Heute erleben wir viel parallelere Abläufe: Validierungsschritte erfolgen iterativ bereits während der Entwurfsphase. Das „V“ wird sozusagen schmaler – Entwicklung und Test greifen früher ineinander. Gerade die frühe Einbindung von Simulation spielt hier eine große Rolle. Wir können mittlerweile mehrere Konzeptvarianten modellieren und in wenigen Tagen virtuell testen, anstatt sie nur theoretisch zu vergleichen. Diese frühzeitige Verifikation im Modell liefert wertvolle Erkenntnisse über die Stärken und Schwächen von Konzepten, was letztlich die Erfolgschancen des gewählten Ansatzes steigert. Insgesamt passt sich das Vorgehensmodell dynamisch an die heutigen Anforderungen an. MBSE unterstützt dabei, agilere Zyklen in traditionell phasengetriebene Prozesse zu integrieren, ohne die verlässliche Struktur des V-Modells komplett aufzugeben.

Die Einführung von MBSE in einem Unternehmen gleicht eher einem Marathon als einem Sprint. Wir raten dazu, geduldig und schrittweise vorzugehen. MBSE bedeutet einen Wandel der gesamten Entwicklungsphilosophie. Das lässt sich nicht über Nacht erzwingen. Bewährt hat sich, zunächst kleinere Pilotprojekte modellbasiert umzusetzen oder MBSE parallel zu laufenden Prozessen einzuführen. So können Teams Erfahrung sammeln, ohne gleich das ganze Unternehmen umzukrempeln. Ein guter Ansatz ist auch, bestehende Produkte oder Varianten nachträglich in Modellen abzubilden. Dadurch werden die Vorteile greifbar: Frühere Projekte dienen als Beispiel, um interne Stakeholder von MBSE zu überzeugen. Wichtig ist, MBSE nicht einfach als weiteres IT-Werkzeug zu betrachten, sondern als Methode, um komplexe Systeme effizienter zu entwickeln. Es braucht einen langen Atem. Je nach Unternehmensgröße kann es Jahre dauern, bis MBSE in allen Bereichen fest verankert ist. Doch die Mühe lohnt sich: Langfristig sind die Verbesserungen enorm, etwa durch weniger Fehler, schnellere Iterationen und klarere Kommunikation.

Ein interessantes Gegenbeispiel sind Start-ups, die oft ganz unvorbelastet an das Thema herangehen. Wir haben junge Firmen kennengelernt, die von Tag eins ausschließlich modellbasiert arbeiten. Ohne historisch gewachsene Prozesse und Altlasten setzen sie direkt auf Systems Engineering mit MBSE-Methoden, um komplexe Produkte zu entwickeln. Diese agilen Vorreiter – nicht selten Ausgründungen aus etablierten Unternehmen – demonstrieren, wie flexibel und rasant MBSE zu Ergebnissen führen kann, wenn man keinen Ballast mit sich trägt. Für große, etablierte Organisationen ist die Umstellung verständlicherweise herausfordernder! Hier müssen gewachsene Strukturen und Prozesse angepasst werden, was intern Überzeugungsarbeit und Durchhaltevermögen verlangt.

Unabhängig von Branche oder Firmengröße zeigt sich ein grundlegender Erfolgsfaktor für MBSE: ein leistungsfähiges Datenmanagement-System. Ohne ein zentrales Product-Lifecycle-Management-(PLM)-System oder eine vergleichbare Datenplattform wird es nahezu unmöglich, modellbasierte Ansätze effektiv zu nutzen. Alle modellbasierten Artefakte – von Anforderungen bis zur Testspezifikation – müssen konsistent verwaltet und verknüpft sein. Fehlt so ein zentrales „Rückgrat“, verzetteln sich MBSE-Initiativen schnell in isolierten Insellösungen. Leider hinken gerade viele mittelständische Unternehmen hier hinterher! Häufig existiert kein etabliertes PLM-System, weil man bislang mit Office-Dokumenten und Dateiablagen gearbeitet hat. Wir erleben oft, dass erst durch MBSE schmerzhaft bewusst wird, wie wichtig ein zentraler Datenhaushalt ist. Firmen, die bereits eine gute PLM-Infrastruktur besitzen, haben es deutlich leichter, denn sie können MBSE-Modelle darin integrieren und profitieren sofort von konsistenten Daten und lückenloser Nachvollziehbarkeit (Traceability) vom Requirement bis zur Produktdokumentation.

Entgegen mancher Befürchtung braucht es für MBSE keine völlig neuen Jobprofile. Die meisten Unternehmen haben bereits die nötigen Experten in ihren Reihen: Systemingenieure, Systemarchitekten, Requirements-Ingenieure und ähnliches Rollenprofil. Diese Fachleute bringen meist schon Grundlagen im modellbasierten Arbeiten mit – ein Mechanikentwickler arbeitet z.B. seit Jahrzehnten mit 3D-CAD, was ja letztlich auch ein modellausgerichtetes Werkzeug ist. Die Herausforderung liegt weniger im Personalbestand, sondern in der Denkweise und Zusammenarbeit: MBSE verlangt ein Umdenken hin zu bereichsübergreifenden Prozessen. Bestehende Abteilungen – ob Mechanik, Elektronik, Software oder Testing – müssen stärker vernetzt werden. Bisher getrennt agierende Disziplinen haben oft nur begrenzten Einblick in die Bedürfnisse und Beiträge der jeweils anderen. So sehen z.B. Softwareentwickler oder Elektroniker nicht immer das Gesamtbild des Systems, an dem sie mitarbeiten. Hier muss ein gemeinsamer Arbeitsrahmen geschaffen werden, damit alle relevanten Abteilungen eingebunden sind und am selben Strang ziehen.

In vielen Unternehmen beobachten wir, dass informeller Wissenstransfer und gewohnte Abläufe ein zähes Hindernis bei der MBSE-Einführung darstellen. Der größte „Blocker“ ist häufig der Mensch selbst: Viel Expertenwissen steckt in den Köpfen erfahrener Mitarbeiter und wurde nie formal in Modellen oder Dokumentationen festgehalten. Insbesondere bei älteren Produkten sind während der Entwicklung unzählige Entscheidungen getroffen und Änderungen vorgenommen worden, ohne dass alles sauber dokumentiert wurde. Dieses Wissen im Nachhinein in MBSE-Modelle zu überführen, ist schwierig. Manches geht schlicht verloren, wenn die Beteiligten nicht mehr greifbar sind. Zusätzlich passen existierende Prozesse oder Altsysteme oft nicht nahtlos zu MBSE. Wir müssen nicht selten bei Null anfangen und Modelle von Grund auf neu aufbauen, um eine konsistente Basis für zukünftige Entwicklungen zu schaffen. Das erfordert Zeit und Überzeugungskraft, ist aber nötig, um langfristig einen Nutzen aus MBSE zu ziehen.

Trotz aller Anlaufschwierigkeiten gibt es bei der MBSE-Einführung auch Quick-Wins, die sich relativ schnell realisieren lassen. Ein klarer Gewinn ist die verbesserte Datenkonsistenz. Durch die modellbasierte Verknüpfung von Anforderungen, Funktionsmodellen, Testfällen und Produktstrukturen sind alle Informationen aufeinander abgestimmt. Änderungen an einer Stelle spiegeln sich konsistent im gesamten Modell wider. Das minimiert widersprüchliche Dokumente und spart viel Abstimmungsaufwand.

Noch bedeutsamer ist die neue Transparenz im Entwicklungsprozess. MBSE schafft für alle Beteiligten einen jederzeit aktuellen Überblick über den Projektstatus. Anstatt mühsam Informationen aus verschiedenen Dokumenten zusammenzutragen, ermöglicht das Systemmodell auf Knopfdruck die Frage zu beantworten: Wo stehen wir gerade, was ist fertig, wo klemmt es? Führungskräfte schätzen diese klare Sichtbarkeit, weil sie Probleme frühzeitig erkennen und angehen können, bevor sie eskalieren. Wir haben oft erlebt, dass in klassischen Projekten jemand händisch Reports konsolidiert, um das große Ganze darzustellen. Wenn dabei Informationen verloren gehen oder verzögert fließen, gerät das Projekt leicht in Schieflage. MBSE hingegen liefert ein durchgehendes Lagebild in Echtzeit. Gerade in großen Organisationen ist diese Transparenz ein enormer Vorteil. Technisch bietet MBSE viele Benefits, aber für das Management ist der Überblick in Echtzeit vielleicht der wichtigste.

„Der große Gewinn von MBSE ist die Transparenz – es zeigt jederzeit den Projektstatus und hilft, Probleme frühzeitig zu erkennen und zu lösen.“

MBSE ist nicht an ein einziges Tool gebunden …

… im Gegenteil, in der Industrie haben sich je nach Aufgabe verschiedene Spezialwerkzeuge bewährt. In der Medizintechnik etwa gibt es ein verbreitetes Tool, das hervorragende Rückverfolgbarkeit zwischen Anforderungen, Tests und Änderungen bietet. Solche Systeme sind in bestimmten Branchen de-facto-Standards, weil sie regulatorische Anforderungen optimal unterstützen. Die Kehrseite: Diese Tools lassen sich nicht ohne Weiteres ersetzen oder isoliert betrachten. Daher sind offene Schnittstellen zwischen den verschiedenen Systemen enorm wichtig. Ein modellbasierter Prozess muss die Integration bestehender Werkzeuge erlauben, damit Unternehmen weiterhin die für sie besten Lösungen nutzen können, ohne auf zentrale Funktionen zu verzichten. Geschlossene Insellösungen ergeben in der heutigen vernetzten Entwicklungswelt wenig Sinn. Wir hoffen und erwarten, dass die Toolhersteller künftig noch mehr Wert auf Kompatibilität legen. Denn letztlich soll MBSE keine monolithische Softwareeinführung sein, sondern ein Methodenframework, das bestehende Tools und Daten verbindet. In unseren Projekten arbeiten wir beispielsweise oft direkt auf den Plattformen unserer Kunden, um den Datenaustausch reibungslos zu gestalten. So bleiben alle Parteien auf dem aktuellen Stand, Informationen gehen nicht verloren, und zusätzliche Experten oder Partner lassen sich viel einfacher einbinden, weil jeder auf dieselbe vernetzte Informationsbasis zugreifen kann.

Unsere Indien-Erweiterung
Cybersicherheit im Gesundheitswesen.

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